Auswirkungen der Externalisierung in Tunesien

März 29th, 2024 - von: migration-control.info

Rassismus und die Tortur der Migrant:innen — Kein Ende in Sicht

Dieser Text wurde zuerst auf Englisch in ECHOES, der Zeitschrift des Civil MRCC, veröffentlicht.

Seit mehr als einem Jahr kommt es in Tunesien zu extremer Gewalt und einer offen rassistischen Politik gegenüber Schwarzen Menschen. Der bereits zuvor in Tunesien existierende Rassismus eskalierte Anfang 2023, ausgelöst durch eine rassistische und diskriminierende Rede gegen Menschen auf der Flucht aus dem subsaharischen Afrika, die der tunesische Präsident Kais Saied am 21. Februar hielt. In den Tagen nach dieser Rede griffen Gruppen marginalisierter junger Männer Schwarze Personen in verschiedenen tunesischen Städten an. Schwarze Menschen wurden Opfer von Gewalttaten, einschließlich Pogromen bewaffneter Banden. Sie waren mit verschiedenen Formen institutioneller Gewalt konfrontiert, wie z. B. durch racial Profiling und willkürliche Festnahmen durch Sicherheitskräfte. Selbst gültige Aufenthaltspapiere schützten Schwarze Personen nicht vor Gewalt: Zahlreiche Menschen wurden unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus verhaftet. Einige wurden schwer verletzt, Häuser wurden in Brand gesteckt und eine unbekannte Zahl von Menschen verschwand. Viele verloren ihre Unterkunft und Zugang zu Lebensmitteln und wurden ihres Rechts auf Gesundheit und Transport beraubt.

Die anhaltende Gewalt gipfelte in illegalen Massenabschiebungen in die Wüstengebiete an der Grenze zu Libyen und Algerien, die von den tunesischen Behörden durchgeführt wurden. Allein im Juli 2023 berichtete Al Jazeera in einem Video, dass etwa 1.200 Schwarze Menschen an der libyschen Grenze ohne Nahrung, Wasser und Obdach festsaßen. Seitdem sind zahlreiche Todesfälle zu beklagen, und die Abschiebungen in die Grenzgebiete dauern weiter an. Gleichzeitig stieg die Zahl der Ausreisenden aus Tunesien nach Europa im Sommer 2023 massiv an. Allein in den vier Sommermonaten überquerten mehr als 83.000 Menschen das Meer. Das sind Zahlen, die wir in dieser Region seit etwa Mitte der 2010er Jahre nicht mehr gesehen haben. Neben Menschen aus Ländern südlich der Sahara waren es auch Tunesier:innen selbst. Im April 2023 erklärten zivile Such- und Rettungsorganisationen und Solidaritätsnetzwerke von Migrant:innen in einer gemeinsamen Erklärung, dass Tunesien weder ein sicheres Herkunftsland noch ein sicherer Ort für die auf dem Meer Geretteten ist. Gewalt und Unsicherheit bestehen weiterhin. Im Folgenden geben wir einen Überblick über die aktuelle Situation.

Tunisia Camp Destroyed 1

Ein von Sicherheitskräften zerstörtes Camp von Menschen, die sich in Olivenhainen verstecken und auf eine Überfahrt warten. Bilder: https://twitter.com/RefugeesTunisia/status/1765428450695758328

In Reaktion auf die steigende Zahl der Grenzübertritte nahm die Gewalt an den Grenzen entlang der tunesischen Route zu und Mittel zur Kontrolle der Migrationsbewegungen wurden verstärkt. Auf dem Wasser hat sich die Zahl der Aufgriffe durch die tunesische Küstenwache mit fast 70.000 Aufgriffen im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Die Berichte über das gewalttätige Vorgehen der tunesischen Küstenwache häufen sich: Boote werden abgedrängt und gerammt, Menschen werden mit Stöcken geschlagen und mit Schüssen eingeschüchtert, die Küstenwache stiehlt Motoren von Schlauchbooten und lässt Menschen auf dem Meer treiben.

Die tunesische Küstenwache ist aktiv an dem von der EU eingeführten Push-back by Proxy Regime im zentralen Mittelmeer beteiligt. Das bedeutet, dass die EU Abfangmaßnahmen auf See an außereuropäische Akteur:innen auslagert, um die Zahl der Überfahrten zu verringern. Eine vom CivilMRCC veröffentlichte detaillierte Analyse zeigt, dass die Europäischen Union und ihre Mitgliedstaaten ein System etabliert haben, um in Tunesien das Regime der Zurückweisung durch Stellvertreter zu reproduzieren, das nur wenige Jahre zuvor in Libyen eingeführt wurde. Vier Elemente sind dabei zentral: die Stärkung der Kapazitäten der tunesischen Küstenwache (Ausrüstung und Ausbildung), die Einrichtung eines Küstenüberwachungssystems, die Schaffung eines funktionsfähigen MRCC und die Ausrufung einer tunesischen Such- und Rettungsregion.

Geflüchtete werden von der tunesische Küstenwache abgefangen und an Land zurückgebracht und so stellt die im Februar 2024 veröffentlichte zentrale Mittelmeeranalyse des Alarm Phone fest, dass "die Abschiebung von Menschen, die von der tunesischen Küstenwache auf See abgefangen wurden, in den letzten Monaten zu einer systematischen Praxis geworden ist". Auch an Land ist die Situation für Schwarze Migrant:innen also alles andere als sicher. Nach dem Höhepunkt der Abschiebungen Schwarzer Menschen in den libysch-tunesischen und algerisch-tunesischen Grenzgebieten im Juli und September 2023, die wir auch auf migration-control.info dokumentiert haben, gehen die Abschiebungen weiter, wie die tunesische Bürgerrechtsorganisation FTDES berichtet. An der libyschen Grenze werden die Menschen von tunesischen Behörden an libysche Milizen übergeben, wo sie in von bewaffneten Gruppen geführten Haftzentren landen. Auch im Westen Tunesiens gehen die Abschiebungen in das algerische Grenzgebiet weiter. Die Zahl der Abschiebungen lässt sich nur schwer einschätzen, da die tunesischen Behörden die subsahararischen Afrikaner:innen meist ausrauben, ihnen das Geld abnehmen und ihre Handys beschlagnahmen. Die Migrant:innen haben daher kaum eine Chance, Beweise für diese illegalen Abschiebungen zu erbringen.

Darüber hinaus sind Kettenabschiebungen von Tunesien über Algerien in den Niger dokumentiert. Die seit langem bestehende illegale Praxis Algeriens, Menschen nach Niger abzuschieben, wird von Alarm Phone Sahara gut dokumentiert. Im Oktober 2023 berichtete das APS, dass "die Praxis der Pushbacks bis heute anhält und viele der Menschen, die nach ihrer Abschiebung aus Algerien in Niger gestrandet sind, berichten, dass sie sich bereits vorher in Tunesien befanden und von dort an die algerische Grenze abgeschoben wurden". Die aktivistische Gruppe bestätigte ihre Beobachtungen im Dezember und stützt sich dabei auf ein Interview mit einem "guineischen Migranten, der zunächst in Tunesien war, nach Algerien abgeschoben und dann in den Niger abgeschoben wurde." Laut einem Artikel, den der Guardian Mitte März 2024 veröffentlichte, hat diese Abschiebepraxis dazu geführt, dass die Polizei sogar Kinder von ihren Eltern trennt. "Ihre Mütter und Väter gehen betteln, und dann fängt die Polizei sie ein und bringt sie nach Algerien", wird eine Person in dem Artikel zitiert. Im Jahr 2023 wandten sich fast 1.500 unbegleitete Kinder an die tunesischen Büros des UNHCR, um Unterstützung zu erhalten.

Dann gibt es noch diejenigen, die aus ihren Herkunftsländern geflohen sind und für die die Lebensbedingungen in Tunesien so schrecklich sind, dass sie lieber zurückkehren, als in Tunesien zu bleiben. Im Jahr 2023 hat die Internationale Organisation für Migration (IOM) 2.557 Menschen zurückgeführt. Diese "freiwilligen Rückführungen" finden im Kontext von Gewalt und der Unmöglichkeit, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, statt. Es gibt keine sicheren Alternativen zu bleiben oder woanders hinzugehen. Diese Rückführungen können nicht als "freiwillig" bezeichnet werden.

Die Migrant:innen, die immer noch in den Küstengebieten Tunesiens auf eine Gelegenheit zur Überfahrt warten, ertragen anhaltende Härten und sind mit Polizeibrutalität konfrontiert. In einem Video, das am 6. März 2024 von Refugees in Tunisia, einem Bündnis von Migrant:innen in Tunesien, auf X gepostet wurde, sieht man eine Person, die durch Olivenhaine geht, in denen viele Menschen, die auf eine mögliche Ausreise warten, Schutz suchen. Das Video zeigt zerstörte Hütten aus Plastikplanen, eine Person berichtet, dass "die Polizei heute hier reingekommen ist, unsere Häuser niedergebrannt hat, einige Telefone und Geld mitgenommen hat... Sie haben alle unsere Häuser niedergebrannt. Es ist nicht leicht für uns."

Tunisia Camp 2

Trotz dieser dokumentierten Menschenrechtsverletzungen versuchen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten weiterhin, die Ankünfte auf dem Seeweg einzudämmen. Die großen Versprechungen, die von der Leyen und Meloni bei ihrem Besuch in Tunis im Juni 2023 gemacht haben, sind gescheitert. Tunesien ist nach wie vor nicht bereit, Migrant:innen zurückzunehmen, und Asylverfahren auszulagern. Frontex ist nicht willkommen. Die EU ist dabei, die Scherben aufzusammeln. In einem Dokument, das migration-control.info vorliegt, gibt die EU zu, dass außer der Lieferung von Ersatzteilen und Ausrüstung für die Küstenwache nicht viel erreicht wurde. Doch statt die Freizügigkeit für alle anzuerkennen, kontrolliert die EU weiterhin die Migrationsbewegungen und will ein Kontrollzentrum zwischen Libyen und Tunesien finanzieren, um die Mobilität von Migrant:innen zwischen diesen Ländern einzuschränken.

Der "kleine Sommer der Migration" von 2023 zeigt neben der anhaltenden Gewalt des Grenzregimes also auch, wie fragil die europäische Abschottung ist. Innerhalb kürzester Zeit sind Menschen aus Nordafrika bis nach Europa gekommen und die kollektiven Ankünfte hatten die Macht, die Institutionen des Grenzregimes einzureißen. Im September 2023 wurde beispielsweise in Lampedusa der Hotspot aufgrund der großen Zahl der Ankommenden geöffnet und die Menschen wurden schnell auf das Festland gebracht, von wo aus sie ihre Reise fortsetzen konnten.

Die betroffenen Menschen, Tunesier:innen und Migrant:innen in Tunesien, wehren sich ständig gegen die Politik, die ihre Menschenrechte verletzt. Im Januar 2024 berichtete Al Jazeera über Proteste von Familien, deren Angehörige (die meisten von ihnen sollen aus dem kleinen Dorf El Hancha im Gouvernement Sfax stammen) seit dem Versuch, Tunesien zu verlassen, vermisst werden. Die Familien errichteten Straßensperren und verbrannten Reifen rund um das Dorf, um Druck auf die Behörden auszuüben, damit diese die Suche fortsetzen, und trugen ihren Protest in die Hauptstadt, um das "offizielle Schweigen über ihre vermissten Angehörigen" zu kritisieren. Im Februar veröffentlichte Refugees in Tunisia ein Video, das eine Gruppe von Migrant:innen zeigt, die in Zarzis, einer Küstenstadt im Süden Tunesiens, demonstrieren und ihre Rechte einfordern sowie die Behörden und internationale Organisationen wie das UNHCR unter Druck setzen, humanitäre Hilfe und Schutz zu gewähren. Ihre Organisation und Protestaktionen sind Teil jahrelanger migrantischer und antirassistischer Kämpfe in Tunesien und Nordafrika sowie in den Herkunftsländern und der europäischen Diaspora.

Als die Zahl der Ankünfte im Winter vor allem aufgrund der Wetterbedingungen zurückging, erklärten dies einige Analyst:innen mit den europäischen Grenzkontrollen. Doch gerade in den letzten Tagen, Ende März 2024, kamen etliche Boote aus Tunesien in Lampedusa an. Gleichzeitig gab es Berichte über eine erhöhte Anzahl von Aufgriffen und Zurückführungen durch die tunesische Küstenwache und ihre Sicherheitskräfte. Der Wettlauf zwischen den Sicherheitskräften und den Migrationsbewegungen hat also im Frühjahr 2024 wieder begonnen. Lasst uns ihre Bewegung und ihren Widerstand unterstützen. Lasst uns unseren Kampf gegen die vom Grenzregime ausgeübte Gewalt und unseren Kampf gegen die europäische Externalisierung fortsetzen. Bewegungsfreiheit für alle!

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