Dossier: Bedeutungen, Folgen und geopolitische Aspekte von Abschiebungen

März 18th, 2024

In jüngeren Debatten sind Abschiebungen zu einem politischen Ziel geworden,
in denen die Notwendigkeit eines vermeintlichen effizienteren Abschiebeapparates nicht mehr in Frage steht. Dabei weisen viele Studien seit langem nach, wie äußerst komplex die Umsetzung eines solchen Abschiebeimperativs ist, dass Abschiebungen in vielschichtigen geopolitischen Zusammenhängen stehen, oft menschenrechtlich oder staatsrechtlich problematisch sind und nicht zuletzt verheerende Folgen für Betroffene haben. Diese Liste und ihre Einleitung sollen helfen, solch kritische Aspekte in der Öffentlichkeit bekannter zu machen. Sie richtet sich an Forschende, Studierende, Journalist*innen und die interessierte Öffentlichkeit.

Warum ein Dossier zu Abschiebungen?

In den jüngsten politischen und öffentlichen Debatten sind Abschiebungen zu einem politischen Ziel geworden, das führende politische Akteur*innen teilen. Im Zuge der sogenannten Migrationskrise hat sich die Vorstellung verfestigt, ein "nahtloses" und "effizientes" Abschiebesystems sei möglich und zugleich notwendig, um das gemeinsame europäische Asylsystem, den Zusammenhalt der EU und Demokratie als Ganzes zu bewahren. Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen fordern häufig verstärkte Abschiebungen, so auch Bundeskanzler Scholz in einem Spiegel-Titelinterview im Oktober 2023.

Demgegenüber weisen viele Studien in der Migrationsforschung seit langem nach, wie äußerst komplex und problematisch die Umsetzung dieses Abschiebeimperativs ist, dass Abschiebungen in vielschichtigen geopolitischen Zusammenhängen stehen (siehe unten) und nicht zuletzt verheerende Folgen für Betroffene haben. In Debatten wird oftmals das Argument angeführt, dass steigende Zahlen von Asylsuchenden die nationale Verwaltung überfordern und die sogenannte kulturelle und soziale Einheit bedrohen würden. Mehr politische Bemühungen um Abschiebungen seien demnach erforderlich. Derlei Argumente stellen jedoch den (menschen-)rechtlichen Grundkonsens und europäische und nationale Rechtsaspekte in den Hintergrund. Sie thematisieren zudem nicht, welcher Preis für die Einwilligungen seitens Drittländern zur Auf- oder Rücknahme von Abgeschobenen erforderlich ist und sein wird. Sie blenden letztlich aus, dass eine vom Abschiebeimperativ getriebene Migrationspolitik auf einer hegemonischen geopolitischen Realität aufbaut, die von rassistischen Strukturen geprägt ist, welche Abschiebungen erst möglich macht.

Diskussionen um Pläne, wie Abschiebungen stärker in Asylverfahren verankert werden können, sind zum festen Bestandteil der Nachrichtenberichtserstattung geworden, wie zuletzt die geplante Auslagerung von Asylverfahren von Großbritannien nach Ruanda sowie von Italien nach Albanien. In Deutschland werden derzeit ähnliche Überlegungen angestellt (Lambert und Lemberg-Pedersen 2023). Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) von 2024 erleichtert Abschiebungen in sogenannte sichere Drittstaaten und wird voraussichtlich dazu führen, dass immer mehr Migrant*innen in Europa inhaftiert werden, um höhere Abschiebezahlen zu ermöglichen. Darüber hinaus soll die zwischenstaatliche Abschiebung innerhalb Europas sowie die „Abschiebediplomatie“ als Mittel zur „Solidarität“ zwischen den EU-Staaten gestärkt werden. An diese Normalisierung von Abschiebung können extremistische Phantasien immer leichter anknüpfen. Dies wurde in den öffentlich gewordenen Diskussionen um „Remigration“ von faschistischer Hardliner*innen in Deutschland deutlich, die Massenabschiebungen nicht nur von vermeintlichen „Ausländer*innen“, sondern auch von deutschen Staatsbürger*innen mit Migrationsgeschichte als auch von Personen, die sich solidarisch mit Menschen auf der Flucht zeigen. Diese rechtsextremen Forderungen sind vor dem Hintergrund der politischen und öffentlichen Debatten über die vermeintliche Ineffektivität der derzeitigen deutschen und europäischen Abschiebungsinfrastruktur zu betrachten. Sie knüpfen an der langen Geschichte von (Forderungen nach) Abschiebungen auf und stärken die Vorstellung weiter, ein Abschiebeimperativ sei alternativlos.

Auf institutioneller Ebene sind Abschiebungen seit der Neugestaltung des GEAS, welches ursprünglich aus dem Schengener Abkommen von 1995 hervorgegangen ist, ein zentrales Politikfeld in Europa. Die gemeinsame Agenda wird seit jeher von der Vorstellung geleitet, dass unerwünschte Mobilität (von sogenannten „Anderen“) eine Bedrohung darstellt, die nur durch Ansätze der Versicherheitlichung in der Migrationssteuerung gelöst werden könne (Bigo 2015, Huysman 2000). Dieser Ansatz der Versicherheitlichung von Migration hat dazu beigetragen, dass bestimmte Gruppen von Menschen auf der Flucht als „illegal“ eingestuft werden, und so ihre Illegalität herzustellen (de Genova und Peutz 2010).

Daher ist es wenig überraschend, dass schon die ersten Ansätze in der Migrationskooperation mit Nicht-EU-Ländern darauf abzielten, die Abschiebeinteressen der EU zu bedienen. Das erste Instrument, das nach Beschluss des Gesamtansatzes der EU für Migration und Mobilität (2005) umgesetzt wird, sind Mobilitätspartnerschaften. Sie hatten zum Ziel, Abschiebungen für Nicht-EU-Staaten attraktiver zu gestalten, indem es mit Visaerleichterungsabkommen und sogenanntem Kapazitätsaufbau an den Grenzen verknüpft wurde. Seitdem bemüht sich die EU darum, ihre Position gegenüber Nicht-EU-Staaten zu stärken und sie dazu zu bewegen, einer höheren Anzahl von Abschiebungen zuzustimmen (Zanker et al. 2020).

Da jedoch viele „Herkunftsländer“ formelle Migrationsvereinbarungen mit verbindlichen Abschiebekooperationsmechanismen ablehnen, werden vermehrt informelle Abkommen geschlossen. Während auf Seiten der EU so das Europäische Parlament als öffentliches Kontrollgremium ausgeschlossen wurde, ist auch in Nicht-EU-Ländern der Abschluss solcher Abkommen oftmals von fehlender öffentlicher Kontrolle geprägt.

Diese Prozesse werden seit langem wissenschaftlich untersucht. Dabei wird immer wieder auf bestehende Fehlschlüsse hingewiesen, einschließlich des aktuellen politischen Kurses der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Die Forschung verdeutlicht immer wieder, wie staatliche Praktiken strukturelle Gewalt reproduziert. Kritische Stimmen warnen zudem davor, dass Abschiebungen als politisches Instrument rassifizierte Vorstellungen von legitimer Ausgrenzung widerspiegeln (Mayblin und Turner 2021, Achiume 2019). Diese Erkenntnisse und Positionen sind in der politischen und öffentlichen Debatte unterrepräsentiert.

Forderungen zur stringenteren Durchführung von Abschiebung und Abschiebehaft werden sowohl von Mitte-Links- als auch Mitte- und Mitte-Rechts-Parteien geäußert. Dabei bedienen sie sich einer liberalen Gewalt, die Rassifizierung reproduziert und entpolitisiert. Dies hat nicht nur schwerwiegende Auswirkungen auf Rechtsstaatlichkeit und demokratische Rechenschaftspflicht innerhalb der EU und in Nicht-EU-Staaten, sondern geschieht auch auf Kosten von Menschenrechte und Menschenwürde. Vor diesem Hintergrund bietet die vorliegende Literaturliste Forschenden, Studierenden, Journalist*innen und der breiteren Öffentlichkeit, die an einer kritischeren Auseinandersetzung mit der Thematik interessiert sind, einen Überblick über die wissenschaftliche Literatur.

Die Liste ist nach folgenden Themen sortiert:

  • Abschiebung und die Konstruktion von (rassifizierender) Differenz und Legalität/Illegalität
  • Lebensrealitäten von Abgeschobenen und ihren Familien
  • Aktivismus gegen Abschiebung
  • Geopolitische Dimensionen von Abschiebung
  • Bedeutung von Abschiebung für „Herkunftstaaten“
  • Vorstellungen und Praktiken von abschiebenden Staaten
  • Alternativen zu Abschiebung

Der Literaturschwerpunkt liegt auf der EU und Afrika, enthält aber auch einige Texte mit anderem Regionalbezug. Alle mit einem * gekennzeichneten Bücher sind in der ABI-Bibliothek erhältlich. Die Liste wurde von Judith Altrogge, Leonie Jegen, Laura Lambert und Franzisca Zanker zusammengestellt. Vorschläge für weitere zentrale Literatur nehmen wir gern entgegen.

Abschiebung und die Konstruktion von (rassifizierender) Differenz und Legalität/Illegalität

  • Anderson, Bridget. 2013. Us and Them? The Dangerous Politics of Immigration Control. First ed. Oxford, United Kingdom ; New York: Oxford University Press.
  • Clayton Boeyink, Nina Sahraoui, and Elsa Tyszler. 2022. "Situating the Coloniality of Encampment and Deportation as a Mode of Mobility Governance: Insights from Ceuta and Melilla, Mayotte and Tanzania." In Postcoloniality and Forced Migration. Bristol, UK: Bristol University Press.
  • Crawley, Heaven, and Dimitris Skleparis. 2018. “Refugees, Migrants, Neither, Both: Categorical Fetishism and the Politics of Bounding in Europe’s ‘Migration Crisis’” Journal of Ethnic and Migration Studies 44 (1): 48-64.
  • De Genova, Nicholas. 2002. “Migrant 'Illegality' and Deportability in Everyday Life.” Annual Review of Anthropology 31 (1): 419–447.
  • Graebsch, Christine. 2022. "Crimmigration and Pre-Crime in German Law: Connecting the International Debate to the German National (Legal) Context." Kriminologisches Journal 54 (1): 16-35. Open Access: https://www.beltz.de/fachmedien/erziehungswissenschaft/zeitschriften/kriminologisches_journal/artikel/48449-crimmigration-and-pre-crime-in-german-law.html.
  • Jansen, Yolande, Robin Celikates, and Joost de Bloois (eds.). 2015. The Irregularization of Migration in Contemporary Europe: Detention, Deportation, Drowning. London, New York: Rowman & Littlefield.
  • Kalir, Barak. 2019. "Departheid: The Draconian Governance of Illegalized Migrants in Western States." Conflict and Society 5 (1): 19-40.
  • Korvensyrjä, Aino. 2024. "Criminalizing Black Solidarity: Dublin Deportations, Raids, and Racial Statecraft in Southern Germany." Identities 31 (1): 104-122.
  • Küffner, Carla. 2022. Un/doing Deportation – Die Arbeit an der Ausreisepflicht. Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-38107-3.
  • Sharma, Nandita. 2020. Home Rule: National Sovereignty and the Separation of Natives and Migrants. Durham: Duke University Press.
  • Walters, William. 2002. "Deportation, Expulsion, and the International Police of Aliens." Citizenship Studies 6 (3): 265-292. https://10.1080/1362102022000011612.
  • Walters, William. 2016. "The Flight of the Deported: Aircraft, Deportation, and Politics." Geopolitics 21 (2): 435-458. https://10.1080/14650045.2015.1089234.
  • Walters, William. 2024. "The Deportation Plane: Charter Flights and Carceral Mobilities." Mobilities. https://10.1080/17450101.2024.2304857.

Lebensrealitäten von Abgeschobenen und ihren Familien

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  • Andersson, Ruben. 2014. "Time and the Migrant Other. European Border Controls and the Temporal Economics of Illegality." American Anthropologist 116 (4): 795–809. https://10.1111/aman.12148.
  • Boyer, Florence. 2017. "Les migrants nigériens expulsés d’Arabie Saoudite." Espace populations sociétés (2017/1). https://10.4000/eps.7088.
  • Bosworth, Mary. 2014. Inside Immigration Detention. Oxford: Oxford University Press.
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  • Drotbohm, Heike, and Ines Hasselberg. 2015. “Deportation, Anxiety, Justice: New Ethnographic Perspectives.” Journal of Ethnic and Migration Studies 41 (4): 551–62.
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Aktivismus gegen Abschiebung

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  • Rosenberger, Sieglinde, Verena Stern, and Nina Merhaut (Eds.). 2018. Protest Movements in Asylum and Deportation. Springer International Publishing.
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Geopolitische Dimensionen von Abschiebung

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Bedeutung von Abschiebung für „Herkunftsstaaten“

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  • Zanker, Franzisca. 2023. "A Typology of Resistance: The ‘Hot Potato’ of European Return in West Africa." Territory, Politics, Governance online first (April): 1–20.

Vorstellungen und Praktiken von abschiebenden Staaten

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Alternativen zu Abschiebung

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